Caleb war ziemlich nervös gewesen. Er hatte das Gespräch mit seinem alten Kollegen dazu genutzt, bei ihm seine Tasche abzustellen und sich bei ihm kurz zu duschen. Ins Schwitzen war er schon gekommen als er spürte dass es langsam ernst wurde. Bald würde er zumindest einen Blick auf den verborgenen Teil seiner Familie werfen können...denn an deren Haustür war er nicht wirklich fündig geworden. Bei dem Familiennamen der am Türschild zu finden war- wurde ihm nicht geöffnet. Caleb war sich zwar sicher gewesen, Schritte gehört zu haben...doch aus irgendeinem Grund wollte man ihm wohl nicht öffnen. Aber sein Onkel und seine Tante waren auch nicht so beliebt gewesen, dass Erzählungen über sie etwas anderes hätten vermuten lassen. Caleb wurde immer nur knapp suggeriert, dass sie 'nicht ganz richtig' gewesen waren...dass man sich von ihnen fern halten sollte. Gegen den gut gemeinten Rat, sich ebenfalls fern zu halten - hatte der gutmütige Caleb ausgeschlagen...wo doch sein Instinkt ihm versicherte, in der Suche nach Familie etwas zu finden was ihn weiter brachte. Selbst wenn er es nicht genau bestimmen konnte, sehnte er sich nach etwas- dass vertraut war und zu gleichem Unbekannt. Sein Leben war sehr Torbulent verlaufen gerade in der letzten Zeit. Wieder einmal war eine Beziehung gescheitert, in die er all seine Gefühle investiert hatte. Langsam fühlte er sich so, als würde er der Welt nicht mehr genügen und suchte deswegen verzweifelt nach einem Boden unter seinen schwebenden Füßen. Er fühlte sich so matt und gleichzeitig aufgewühlt- und verlangte so sehnlichst nach Antworten. Wer wusste, ob er sie in der Begegnung mit seinem Cousin finden würde- von dem er wusste dass er Naturwissenschaften studierte? Calebs ganze Erwartungen lagen in dieser einen Hoffnung. Einen Blick wollte er zumindest auf ihn riskieren...denn so wie seine Eltern ihm- Caleb beschrieben wurden, wusste sein Cousin sicher auch nichts davon, einen weiteren Familienkreis zu besitzen...
So schlich er nun ohne auffällige Uniform zum Universitätsgebäude. Auf dem Weg wurden ihm allerhand Zettel von Kursen und Nachmittags-Treffs in die Hand gedrückt. Er selbst sah mit seinem türkisen, weitem Shirt und der längeren, dünnen Jacke - selbst wie ein junger Student in enger Röhrenjeans und Halbschuhen aus. Immer wieder musste er sich über den Bauch streichen- weil die Nervosität sich darin breit machte. Mit einem schlucken überwand er jedoch die Angst und überquerte die Stufen bis zum Gebäude, in dessen kühlen Gängen er nach dem Bereich für Naturwissenschaften suchte. Hier war alles so groß gewesen- dass er nicht umhin kam ein paar andere Studenten nach dem Weg zu fragen. Sie sahen ihn an, als ob sie überlegen würden wo sie Caleb schon einmal getroffen hatten...doch erklären konnte sich Caleb dies nicht, auch wenn es ihn verlegen machte- solche Blicke öfter deuten zu müssen. Umso breiter die Gänge wurden, umso leerer wurden sie auch. Es mussten wohl noch Kurse stattfinden- glaubte Caleb- und ließ sich schöpft auf einer der Bänke nieder, die einen kleinen Brunnen säumten. Das war sicher einer dieser Trinkbrunnen- wie Caleb sie schon von zu Hause kannte...doch wie er seine Hände um die spitzen Knie legte, begann die Aufregung doch größer zu werden. Ob er es schaffte seinen Cousin anzusprechen, sollte er ihn treffen? Oder sollte er es bei Blicken belassen... das musste er wohl spontan entscheiden. Caleb wusste nur, dass sein Cousin aus der mittleren Tür kommen musste, da laut Kurs-Liste hier der einzige MathematikKurs an diesem Nachmittag stattfand. Aber ob er ihn überhaupt erkennen würde? Vorsichtig sah er auf, jeden Moment damit rechnend, dass sich die Tür öffnen würde...
Trotz der Hitze war der Mathe-Kurs ruhig verlaufen. Zum einen sorgte dafür die funktionierende Klima-Anlage, die den Raum mit mäßigerer Temperatur versorgte, zum anderen waren sämtliche Schüler des Kurses hoch konzentrierte Mathematik-Leistungsschüler. Noah war das nur angenehm... hier interessierte sich niemand für irgendwas, außer den allgemein gültigen Gesetzen der Mathematik. Sein Freund saß neben ihm, und so warf Noah ihm nur gelegentlich einen Blick zu, oder schenkte ihm ein Lächeln. Sie machten sich beide eifrig Notizen, obwohl die Konzentration nach den langen Unterrichtsstunden irgendwann zwangsläufig nachließ. Als die Glocke schließlich endlich das Unterrichtsende verkündete, klappte er nur den Deckel seines schmalen Notebooks herab und ließ dieses in die Umhängetasche gleiten. Die anderen Schüler, die es eilig hatten endlich raus zu kommen, waren bereits größtenteils durch die Tür verschwunden, als Noah endlich damit fertig war, seine Sachen zu packen. "Das war heute echt wieder interessant, findest du nicht?" fragte er Aaron und stand schließlich auf, wobei er nur seinen Stuhl zurecht schob. "Der Kurs hätte ruhig noch eine Stunde länger gehen können, aber auf der anderen Seite bin ich doch etwas müde." zeigte er ein leichtes Lächeln. Während der Unterrichtsstunden merkte man ihm kaum an, das ein schweres Gewicht auf seiner Seele lastete. Die abstrakte und doch logische Welt der Zahlen war ein Umfeld, indem er sich frei bewegen konnte; ganz ohne die Einschränkungen, die die reale Welt ihm auflastete. "Hey, was meinst du, wollen wir uns auf dem Heimweg eine Flasche Cola aus dem Automaten holen? Darauf hätte ich heute total Lust!" schlug er vor und fasste auf dem Weg aus dem Klassenzimmer nach Aarons Hand, um sie ganz fest in der eigenen zu halten. Er sah dabei wirklich fast fröhlich aus. Für Noah war eine Flasche Cola schon etwas besonderes. Kleine, alltägliche Dinge bereiteten ihm Freude. Alles, was das überstieg bereitete ihm dagegen schon Unbehagen. Ob freiwillig oder vom Schicksal gezeichnet, der war durch und durch ein Asket.
Als sie den Klassenraum als letzte vor dem Lehrer verlassen hatten, der noch absperren musste, waren die Gänge schon ziemlich leer. Offensichtlich hatten es alle eilig gehabt, noch etwas vom Tag zu genießen. Noah war das nur recht, so konnte er ganz nahe an Aarons Seite gehen und die Wange an dessen Schulter schmiegen. Er liebte seinen Freund von ganzen Herzen und wäre ohne ihn ziemlich verloren gewesen. Seine Anwesenheit dagegen gab ihm Kraft, jeden Tag aufzustehen und das Leben weiter zu leben, so schwierig es auch an manchen Tagen war. Die Tür am Ende des Ganges schwang schließlich auf, und so konnten auch sie das Gebäude verlassen, wo bereits Caleb auf den nichtsahnenden Noah wartete..
Auch Aaron hatte den Kurs genossen. Mathematik war etwas, wo es nur zwei Möglichkeiten gab. Entweder war die Lösung falsch oder Richtig. Es gab nur einen richtigen Weg...und man konnte ihn immer wieder berichtigen, wenn man in seiner Rechnung einmal falsch lag. Wo andere verzweifelten, sah Aaron Entspannung. Mathematik hatte etwas von einer heilen Welt an sich. Es gab nur den Weg der richtigen Lösung- und man konnte Fehler beliebig korrigieren. Wo in der Realität fand man ähnliche Vergleiche? Nirgends...und so konnte Aaron mit Mathe seine fehlenden, sozialen Kompetenzen ausgleichen. Sie fielen auch in Noahs Gegenwart gar nicht so auf. Bei seinem geliebten Rotschopf verhielt er sich auf den ersten Blick so normal, wie jeder verliebte junge Mann, der seinen Lebensweg gefunden hatte. Aaron lächelte- zeigte Wärme, und küsste sogar Noahs Schläfe- selbst wenn jeden Moment andere Studenten oder Lehrer hätten vorbei schauen können. Sicher, es war nichts Verbotenes daran, sich in der Öffentlichkeit zu küssen. Doch für Aaron kostete es enorme Überwindung zu seinen Gefühlen zu stehen. Nicht, weil es ihm peinlich war...sondern einfach weil er immer angst hatte etwas falsch zu machen, und jemanden dadurch zu verlieren. Zu Noah hatte er so viel Vertrauen gefasst, dass diese Ängste komplett verloren gingen. Trotzdem nahm Aarons dies nicht selbstverständlich. "Gute Idee...ohne etwas zu trinken hätte der Kurs bei mir keine Stunde länger gehen können.." versuchte sich der junge Mann mit dem etwas eigenen Sinn für Humor an einen Scherz. Aarons meinte es wirklich nur gut.. "Aber die Algorithmen waren wirklich interessant. Ich war froh als die letzte Kurve endlich stimmte. Meine Konzentration hatte schon nachgelassen." redete er munter weiter- und genoss es wie Noah seinen Arm hielt. Wie sehr er sich das immer gewünscht hatte, nachdem sich der Rotschopf von seinem Zwilling getrennt hatte...und nun trug er sogar dessen Verlobungsring.
Caleb hatte dabei die Hoffnung schon fast aufgegeben. So viele Schüler und Studenten waren ihm schon begegnet...und bestimmt war sein Cousin unbemerkt dazwischen durch gerutscht- ohne von ihm wahrgenommen zu werden. Seufzend musste sich Caleb deswegen erheben. Um sich ein wenig aufzumuntern, steuerte er den Getränkeautomaten an, aus dem er sich eine Cola ziehen wollte. Etwas Süßes konnte ihn vielleicht dazu bringen, etwas länger durchzuhalten. "Hm.. wo kommt denn hier das Geld rein?" musste er sich dann aber fragen, und den Kopf schief legen. "Da ist nur der Card-Reader für Campusbesucher..Studenten bekommen es nämlich günstiger. Geld kann man da an der Seite einwerfen." Hörte er plötzlich eine Stimme von hinten, die ihn aufschrecken ließ. Calebs Schultern zuckten zusammen- und Aaron konnte nur blinzeln. "War ich zu grob?" richtete er sein fragendes Gesicht an Noah, ohne sehen zu können- wie der Unbekannte sich zu ihnen drehte, und aus dem Staunen nicht mehr heraus kam. Das musste Noah sein! Sein Cousin... die Ähnlichkeit war einfach zu offensichtlich gewesen...und plötzlich wurden die Knie wieder ganz weich. "D-Danke..." brachte er erst nur hervor. Dann blieben seine Blicke schon an dem Rotschopf hängen. Er war etwas kleiner, und vermutlich jünger...aber er besaß diesen ganz eigenen, traurigen Ausdruck in den Augen- die Caleb Verbundenheit zusprachen. Unweigerlich musste Caleb lächeln..so warm und gütig, wie es nur die Erschöpfung mit sich bringen konnte- oder der liebende Ausdruck eines traurigen Gesichtes. "Ich... also.." konnte er nur stottern, und erst vorsichtig den Blick wieder heben. "Kann es sein, dass du Noah bist?" rang er sich dann dazu durch- wobei das mit sich führte, dass Aaron sich gleich schützend vor seinem Verlobten aufbaute.