Die Sonne des Nachmittages hatte noch genügend Kraft um den gegossenen Kiesboden zu wärmen, und die in verschiedenen Höhen gewachsene Botanik mit Schatten hervorzuheben. Zwischen dem hellen Zierrasen wuchsen vereinzelte Bäume. Die meisten hatten ihre Blätter schon verloren- an manchen der dünnen Stämme hielten sich dichte Nadeln und schufen ein schönes Winterkleid, dass sich auf den Schnee vorbereitete. Noch hatte der Winter den schönen Vorgarten nicht vollständig eingenommen. Der künstlich angelegte Teich mit der Springbrunnenanlage in der Mitte bildete nicht nur einen Blickfang, indem sich das Licht der Sonne reflektierte- sondern untermalte den leicht gehenden Wind auch mit einem sanften Rauschen , dass die Oberfläche des Wassers immer wieder zum erschüttern brachte und das Wasser in gleichbleibenden Kreisen auseinander treiben ließ- bis es schließlich am Rand aus Steinen verebbte. Ein kleiner Steg führte zum Teich.. kleine Bänke säumten den Rasen drum herum- und man hätte an dem schönen Anblick hängen bleiben können...
Nicht so jedoch ein junger Mann- der einzige der dem Anblick des Schauspiels in diesem Moment verfallen war. Er trug ein hellbraunes Jackett- darunter einen schönen, weißen Rollkragenpullover mit schönem Strickmuster. Die Ärmel lagen enger an den Handgelenken an...das Muster wurde an dieser Stelle auch feiner- und reichte bis zu den fast weißen Fingerknöcheln, die vor der Kälte Schutz in den Taschen des Jacketts suchten. Eine hellblaue Jeans und dazugehörig passenden braunen Halbstiefeln rundete das Bild ab. Auf der Nase des schwarzhaarigen mit gedankenverlorenem Blick saß eine schmale Brille- und in der Hand führte er einen kleinen Beutel mit sich. Was man auf den ersten Blick nicht vermutete war, dass Sun richtig nervös war. Blass war er immer- doch aus seinen Augen sprach mit großer Sicherheit die Besorgnis. Ob Koishii ihn mögen würde, wenn sie sich sahen? Er hatte ihm ja kein Foto gezeigt... und in dessen Vorstellung musste sich das Bild des mysteriösen, gutherzigen Sehers festgesetzt haben. Das gab sicher eine ganz schöne Überraschung nun zu sehen was sich die ganze Zeit hinter dem Computer versteckt gehalten hatte... aber Sun ging es dabei nicht viel anders. Er konnte den Gedanken nachvollziehen, da er selbst sich auch nicht vorstellen konnte was ihn erwartete. Er wusste nur, dass er in Koishii immer nur Koishii sehen würde.. egal wie dieser aussah oder was ihn in der Realität plagte. Und dass ihn etwas plagte lag auf der Hand- denn ansonsten würden sie sich nicht in einer Psychiatrischen Einrichtung treffen. Sun störte nicht einmal das.. es bedrückte ihn nur, dass es dem Menschen der ihm am meisten etwas bedeutete- so schlecht ging. Der Student hatte sich in seinen Semesterferien extra ein paar Tage frei genommen, um mehr darüber in Erfahrung zu bringen...und um Koishii vor allem Näher zu kommen.
Sein Gang führte ihn deswegen weiter zum weißen, schönen Gebäude. An der Treppe sah man sogar ab und an ein Gesicht. Vermutlich Besucher, oder Personal.. ein paar Kinder waren zwischen ihnen- doch weiter ablenken lassen wollte sich Sun nicht. Er steuerte die gläserne Tür an, die sich durch einen Infrarotmechanismus selbstständig öffnete, als er die Schwelle erreicht hatte. Im Zwischenraum wurde ihm jedoch der weiterführende Weg versperrt. Eine Plakette an der Wand wies ihn darauf hin, den roten Knopf neben der Gegensprechanlage zu drücken, um sich anzukündigen. Der Boden war aus Marmor...oder einen Imitat. Zumindest hinterließ er jeden Schritt des Studenten aufhallen- bis sein schlanker Finger den roten Knopf eindrücken konnte. Sun vernahm daraufhin ein surren. Er sah sich um- erkannte jedoch nur weiße, dekorierte Wände. "Ja? Wer ist da?" hörte er dann aber schließlich doch- als das surren abklang. Er wendete sich wieder der Gegensprechanlage zu, betätigte den Knopf und öffnete die schmalen Lippen. "Mein Name ist Akari Ryusei.. ich habe heute für Fünfzehn Uhr Besuch angemeldet." brachte er nach einer Pause über die Lippen, in welcher er den Pullover von seinem Handgelenk geschoben hatte um auf seine Uhr zu sehen. Er war überpünktlich...auch deswegen musste die Damen mit der rauen Stimme wohl erst mal die Leitung wieder knistern lassen, um auf ihrer Tastatur nach den entsprechenden Daten zu hacken... "Ah.. hier ab ich sie.." freute sie sich wohl- oder auch nicht. An der Tonlage war das nicht wirklich abzusehen. Als die weitere Tür sich öffnete, schlug Sun das Herz schon wieder bis in den Hals. "Melden sie sich an der Rezeption." hörte er noch, ehe er folgsam der Beschilderung bis zur Rezeption folgte. Hier gab man ihm Zimmernummer des Patienten, der für ihn immer der kleine Koishii blieb..und deswegen war es ihm auch wichtig, dass dieser ihn auch immer mit Sun ansprechen durfte, wenn er wollte. Auf dem Weg zum Fahrstuhl wollte er sich noch Worte zurecht legen- was ihm jedoch nicht wirklich gelang. Die Konzentration fiel ihm sichtlich schwer. Zudem hatte man einen Blick in seine Tüte mit kleinen Geschenken werfen wollen. Aus Sicherheitsgründen, versteht sich... aber doch wahnsinnig persönlich. Da waren Sachen drin, die Koishii und Sun schon immer sehr verbunden hatten.. und der Student weigerte sich innerlich schlicht dass auch nur mit irgendjemanden außer Koishii zu teilen, dem sein Besuch angekündigt wurde. Wie er wohl darauf reagierte?
Sun stand nun zumindest vor seiner Tür. Die Zimmernummer war diejenige, die man ihm mitgeteilt hatte...und so konnte er sich nur ein Herz fassen, und vorsichtig an die Tür klopfen. "Koishii? " rief er leise."Ich bin es, Sun.." meldete er sich nur und wartete dann ab, ob der JUnge reagierte und ihn herein bat. .. Alle weiteren Gedanken verschob er...denn Aufregung brachte ihn ab hier nicht mehr weiter. Trotzdem stach die Frage weiter in sein wild schlagendes Herz.. ob Koishii sich freuen würde, ihn nun endlich zu sehen?
New moon, would you open the gates and take me away from this night New moon, between the curtains Walk me away on your silvery bridge
Es war ein helles Einzelzimmer, das Koishii bewohnte. Gerade groß genug für das schmale Einzelbett mit der weißen Bettwäsche und dem blauen Blumenmuster, einen hölzernen Beistelltisch und das dazu passende Schränkchen, indem einige Kleidungsstücke aufbewahrt werden konnten. Außerdem fand man noch ein Tischchen mit zwei Stühlen am Fenster, wo Koishii für gewöhnlich seine Hausaufgaben machte. Im Moment befand sich dort das zusammengeklappte Notebook - andere persönliche Gegenstände suchte man im Raum allerdings vergeben. Auch die hellblauen, jetzt geöffneten Vorhänge konnten nicht über die Schlichtheit und Unpersönlichkeit des Raums hinwegtäuschen. Trotz allem war Koishii ganz froh, hier zu sein. Er hatte regelrechte Panikattacken erlitten, als seine Knochenbrüche nach und nach verheilt waren und er mit der Reha begonnen hatte. Er war jung, deswegen waren seine Verletzungen verhältnismäßig schnell und gut geheilt, so dass er wieder nach Hause gekonnt hätte - nach Hause und zurück in die Schule, die Grund für seine Angstzustände war. Deswegen war er vor ein heranrasendes Auto gelaufen... der verzweifelte Versuch, zu entkommen... Nachträglich hatte er gar nicht mehr mit absoluter Sicherheit sagen können, ob er sich wirklich umbringen wollte, oder einfach nur nach einem Ausweg gesucht hatte. Tatsache war jedoch, dass er seinen Tod billigend in Kauf genommen hätte. Damals in seinem Krankenzimmer hatten ihn oft schwärzeste Depressionswellen überrollt, in denen er gewünscht hatte, doch umgekommen zu sein, anstatt mit all den Knochenbrüchen gestraft zu sein... Damals hatte ihn ein Junge namens Felix aufgebaut. Einer, der selber am Rand des Todes stand, aber nicht sterben wollte. Eine Organspende hatte sein Leben gerettet, und Koishii war froh darüber gewesen. Selbst wenn sie später keinen Kontakt mehr gehabt hatten. Zum damaligen Zeitpunkt war mit ihm sowieso nichts anzufangen gewesen. Als er schließlich eine ganze Weile später aus dem Krankenhaus hätte entlassen werden sollen, überkam ihn dann doch wieder die Panik... Das Online-Forum, in dem er sich angemeldet hatte und in dem er Sun kennengelernt hatte, hatte ihm damals viel Auftrieb gegeben, so dass er geglaubt hatte, 'draußen' wieder zurecht zu kommen, aber so war es dann doch nicht. Er musste sich also den Ärzen anvertrauen und schilderte seinen Unfall zum ersten Mal als Selbstmordversuch. Eigentlich hatte er es geheim halten wollen und es noch mal versuchen wollen nach seiner Entlassung, hatte es sich aber anders überlegt, weil er lieber weiter mit Sun spielen wollte. Gespräche mit zwei Kinder- und Jugendpsychologen folgten, die für ihn ziemlich unangenehm waren, aber am Ende stellte er mit Erleichterung fest, dass man ihn in eine Kinder- und Jugendpsychiatrie überweisen würde. Nach zwei Schulwechseln war der Horror einfach zu groß gewesen. Sicher, er hatte auch vor dem Sanatorium Angst gehabt, aber als die ersten zwei Probewochen gut verlaufen waren, war er froh, länger bleiben zu können... Sicher, es gab da schon Abstriche. Viele Regeln, Verbote und Gesprächstherapien, die alle nur darauf abzielten, ihn sozial Wiedereinzugliedern... aber Koishii dachte nur daran, die Zeit einfach zu überstehen bis er 18 wurde, dann konnte er immerhin für sich selbst entscheiden. Und sein Notebook hatte er behalten können. Er brauchte es zum Lernen, und sein kleines Forum fiel nicht unter die gesperrten Seiten. Sonst wäre er wohl nach den zwei Wochen doch wieder nach Hause gegangen...
Für ihn war heute ebenfalls ein großer Tag. Der Tag, an dem er Sun zum ersten Mal sehen würde. Er konnte nicht bestreiten, große Angst zu haben. Angst davor, was er zu sehen bekam, Angst davor, dass Sun vielleicht nicht gefiel, was er sah... Angst, dass danach nichts mehr so wäre wie vorher. Nur irgendwann hatte er den beharrlichen aber nicht aufdringlichen Anfragen nach einem Besuch nicht mehr ausweichen können. Er hatte also gebeichtet, in einer Anstalt zu sein. Da es Sun nicht abgeschreckt hatte, konnte er sogar eine Besuchserlaubnis erwirken... Allerdings war er sich ziemlich sicher, dass das auch ein großes Thema zukünftiger Sitzungen werden würde, und das war ihm eigentlich überhaupt nicht recht. Ihre Beziehung war für ihn sehr persönlicher Natur. Aber vieles würde wohl davon abhängen, wie dieser Besuch verlief. Wenn es gut lief, dann würde er vielleicht versuchen, doch baldmöglichst nach Hause zu kommen. Koishii musste sich räuspern. Er war total nervös und schenkte sich deswegen etwas Wasser aus der dünnen Plastikflasche in seinen Pappbecher ein. Da er nicht als akut selbstmordgefährdet galt, musste er zumindest nicht auf alles verzichten. Sonst hätte er wohl auch sein Notebook nicht behalten können, ohne Gefahr zu laufen, sich mit den Kabeln zu erwürgen. So konnte er wenigstens zu seinem verwaschenen Pullover - er war früher wohl einmal grün gewesen - ein paar Jeans und Turnschuhe tragen. Vielleicht hätte er sich gern etwas mehr herausgeputzt.. aber er hatte keine Sachen die dem Anlass entsprachen. Er hatte auch nicht zu Hause anrufen wollen, dass man ihm etwas vorbei brachte... zu den Eltern hatte er kein gutes Verhältnis, und sie hatten ihn außerdem noch kein einziges Mal besucht, seit er hier war. Er war darüber vielleicht ein klein bisschen traurig, aber andererseits auch erleichtert. Er wollte sie nicht wirklich sehen, alles was er vermisste, war das Gefühl, nicht bedeutungslos zu sein. Bedenken hatte er vor allem, weil er kein Asiate war... er war nicht mehr, als ein durchschnittlicher, amerikanischer Teenager. Blass, abgemagert durch die lange Zeit, die er ans Bett gefesselt war und von mehr oder weniger unleckerem Krankenhausessen ernährt worden war... Weder groß noch klein, dafür aber ohne Selbstbewusstsein und darüber hinaus noch krankhaft schüchtern. Ihm blieb fast das Herz stehen, als es an der Tür klopfte. Es war noch gar nicht drei Uhr... Koishii fühlte schon wie die Panik hochkam und ihn lähmte. Es war noch nicht drei, er war noch nicht bereit - andererseits würde er wohl für so einen Gang nie bereit sein. Sein Herz hämmerte, die Kehle war wie zugeschnürt, so dass ihm selbst das Atmen schwer fiel, und die Beine, die plötzlich zu Wasser geworden zu sein schienen, ließen ihn nur wackelige Schritte machen. Weiter als bis zum Bett schaffte er es nicht - er musste da stehen bleiben und sich fest halten. Erst beim zweiten Versuch nach einem weiteren Räuspern schaffte er es dann, "Hereien!" zu rufen. Sein Kopf fühlte sich an, als ob er platzen würde... jedoch nur, weil er plötzlich knallrot geworden war. Seine Schüchternheit und dieses grausige Erröten gingen Hand in Hand... er senkte deswegen den Kopf, die schwarzen Haarspitzen fielen ihm ins Gesicht. Natürlich, je mehr man versuchte, das Erröten zu unterdrücken, um so mehr wurde mans dann doch.. Er wedelte mit der freien Hand, versuchte das Gesicht so zu kühlen, aber es war zwecklos.. er würde warten müssen, sicher ein, zwei oder drei Minuten, und so lang dauerte das nicht, bis die Tür sich öffnen würde.
Sun musste schlucken, als er die Stimme von Koishii vernahm. Er hatte noch nie mit ihm geredet..geschweigeden seine Stimme bei einem Telefonat vernommen. Sie klang so verletzlich und ängstlich...um dass zu erkennen musste man kein großartig studierter Menschenkenner sein. Das machte Suns Herz nur noch schwerer. Die Schwere brachte ihm jedoch die benötigte Ruhe zurück, die seine Emotionen im Zaun hielt. Er musste sich jetzt konzentrieren, um sich ebenfalls nicht in der Aufregung zu verlieren. Das wäre wohl ganz schön peinlich gewesen- denn immerhin hatte Koishii ihn nie so kennengelernt. Und alles was Sun wichtig war- bedeutete nun einmal dem Jungen eine Stütze sein zu können- und niemand der ihm mit seiner eigenen Schüchternheit noch mehr angst machte. "Gut..." brachte er deswegen sanft über die Lippen, und konnte sie sogar zu einem Lächeln verziehen- als er die Tür endlich aufschob. Sein Atem und der eigene Herzschlag drohte für diese zehrenden Sekunden zu stoppen. Sie kamen Sun wie eine Ewigkeit vor- ehe der Schein der durch das geöffnete helle Zimmer drang, sich langsam in der Einrichtung und der Kontur des Raumes verlor. Er sah das Fenster...die hellblauen Vorhänge...und den Tisch mit dem Notebook, vondem aus Koishii wohl immer mit ihm geschrieben hatte.
Die Tür musste er nur weiter öffnen, um eintreten zu können- dann konnte sein Blick schon neugierig nach Koishii ausschau halten. Seine Tüte hangelte am Handgelenk und raschelte- weil die Finger noch dabei waren die Tür hinter sich wieder zu zuschieben. "Da bist du.." sprach er warm- aber innerlich schien Suns Herz zu explodieren. Da stand er..in seinem verwaschenen Pullover- ausgemärgelt und Halt-suchend am Bett. Der Kopf war gesenkt, und die dunklen Haarspitzen hingen im geröteten Gesicht. Sun beugte sich etwas vor, und strich sich dann dass Haar aus dem Gesicht hinter den Bügel der Brille. "Ich bin so froh dich zusehen.." wurde er nur immer leiser, weil es die Emotionen waren, die Sun überrollten. Ob er nun einen Asiat vor sich hatte oder nicht...von ihm aus hätte er nichteinmal ein Junge sein brauchen. In Suns Kopf und in sein Herz hatte sich Koishii als Person gebrannt...und das ließ sich durch nichts trüben. Er empfand nur großes Mitleid, und bemerkte gar nicht wie seine Hände sich langsam hoben, um sich sanft um Koishiis Oberarme zu schließen. "Sehr froh..und so aufgeregt." wiederholte er nur lächelnd- während er einmal über den äußeren Oberarm des Jungens strich. Es war eigenartig...und doch wunderschön. Wie oft hatte der Seher Koishiis Arm so berührt? Sun wollte ihn einfach nur festhalten.. einfach vor all dem schützen, was ihn so verletzte. Am liebsten hätte er ihn mit nach Seattle geschleppt..in seine kleine Wohnung in den Slums. Der Haken war nur, dass diese Wohnung nicht in der Realität existierte... Was jedoch auch in dieser Realität existierte waren seine Gefühle für den Jungen.."Ich hab uns was mitgebracht.." lächelte er sanft, und betonte bewusst nicht Koishii ein paar Geschenke mitgebracht zu haben, weil er glaubte das könnte ihn noch verlegener machen. "Du erkennst die Sachen sicher sofort.. " sprach er weiterhin sanft, langsam...damit seine Stimme nicht von noch größeren Schwingungen erschüttert wurde. Seine Hand rutschte ein wenig höher um ihm einmal leicht durchs Haar zu streichen, ohne den schützenden Vorhang von seinen Augen zu heben. Seine Finger ragten sogleich wieder aus den Strähnen und ließen sie zurückfallen. "Wollen wir uns vielleicht setzen?"
New moon, would you open the gates and take me away from this night New moon, between the curtains Walk me away on your silvery bridge
Koishii traute sich gar nicht erst, den Kopf zu heben. Er hörte dagegen sehr deutlich das leise Quitschen der Türscharniere, als diese sich öffnete und das Rascheln einer Tüte. Er hörte die Schritte auf dem Linoleum des Fußbodens, und dann schoben sich die Schuhe, die sie verursachten in sein Blickfeld. Halbhohe, hellbraune Stiefel... sie sahen hübsch aus, wie die hellblauen Hosenbeine in ihnen verschwanden... aber weiter hoch schauen konnte er nicht. Nicht einmal, als er spürte, wie sich zierliche Hände um seine Oberarme schlangen. Er wusste, dass er eigentlich hochschauen sollte, dass er sich gern das Gesicht angeschaut hätte, das Suns war, und auch irgendwie nicht - aber ihm fehlte einfach der Mut. Stattdessen wich der Atem mit leisem Hauch aus seinen Lungen und über seine Lippen, als er die Berührung spürte. Irgendwo empfand er Erleichterung, Suns Berührung zu spüren. Es war schön, und sein Herz klopfte aufgeregt, was jedoch verhinderte, dass seine Gesichtsfarbe rasch wieder zur Normalität zurückfinden würde. Er war leider so blass, dass man es ihm um so deutlicher ansah. Suns Stimme erkannte er nicht... aber das war nur logisch, da er sie weder in der Realität, noch in ihrem Spiel je gehört hatte. Auf jeden Fall war sie ihm angenehm in den Ohren. Ob er wirklich so froh war, ihn zu sehen wie er sagte? Oder ob er nun enttäuscht von ihm war? Seine zittrige Stimme versagte, und verweigerte ihm so, eine Antwort von den vielen auszusprechen, die ihm wie ein Schwarm durch den Kopf sauste. Er wollte Luft holen, vielleicht den Kopf heben und über seine eigene Schulter schauen, um Sun zumindest einen Platz auf einem der Stühle anzubieten, aber stattdessen versagten seine Beine ihren Dienst. Sie weigerten sich einfach, ihn weiter zu tragen, und er sank erschöpft an Suns Brust. Die Nasenspitze vergrub sich dabei im Stoff seines Pullovers. Obwohl es ihm peinlich war, spürte Koishii eine Welle an Wohlbefinden in sich aufsteigen, in die er sich am liebsten genauso gekuschelt hätte, wie in Suns Arme. Er spürte etwas Vertrautes, das sich vielleicht während ihrer vielen Plays miteinander aufgebaut hatte, und seine Augenlider sanken herab. "Tut mir leid..." konnte er dann schließlich doch murmeln, während seine Nase versuchte, sich jede Duftnuance von Sun einzuprägen, die er wahrnehmen konnte. "Ich hab noch nicht so viel Kraft in den Beinen.." versuchte er sich zu erklären. Das stimmte auch, aber Hauptgrund dafür, dass sie ihn jetzt im Stich gelassen hatten, war seine Nervosität. "Bist du es wirklich, Sun?" stellte er noch die für ihn wichtigste Frage,während seine Hand sich ganz vorsichtig nach oben stahl, und Hals an Suns Ärmel suchte..
Sun konnte seine Arme nur um Koishiis Rücken schließen, als dieser an seine Brust sank. Sein Herz machte dabei riesige Sprünge- schlug ihm bis zum Hals und lies seine Stimme leicht vibrieren, als sie es schaffte über die Lippen zu treten. "Koishii.."murmelte er nur- die Endsilben deutlich weicher gesprochen, was auf einen asiatischen Akzent schließen ließ. Geboren war er jedoch wirklich in Amerika. Ein Sprachfehler den er als schüchterner Junge damals besessen hatte- hinterließ in den weichen Wordschlüssen jedoch Nachwirkung. "Entschuldige dich nicht." fügte er nur an und schüttelte den Kopf. Ihm wurde so schwer..doch nicht körperlich. Rein seelisch wirkte ein viel größeres Gewicht auf ihn, als er die leise Stimme Koishiis vernahm, und seine Hände an seinem Oberarm spürte. "Ich passe doch auf dich auf.." murmelte Sun, dessen Augen sich deutlich geschmälert hatten und sie in einen dunklen Rahmen hüllten, den seine Wimpern bildeten. "Ich bin immer für dich da.." wurde Sun nur immer leiser und drückte den Jungen fester an seine Brust. Dennoch hörte er genau seine Frage, die ihm dann doch ein Lächeln entlockte. "Ich bin Sun, dein Sun.." erwiderte er darauf und streichelte über den Rücken Koishiis. Er merkte dabei genau die raueren Fasern des ausgewaschenen Pullovers, was ihn aber nicht störte. Schlimmeres Herzstechen hinterließ das Gefühl von hervorstechenden Wirbeln die sich unter seinen Fingerkuppen abzeichneten. "Möchtest du dich vielleicht auf das Bett setzen? Wenn du nicht mehr so gut stehen kannst." bot er an und neigte seinen Kopf, so dass sein Kinn im schwarzen Haar versank und leicht über Koishiis Kopfhaut rieb. "Ich lass dich auch nicht los..nein." murmelte er nur weiter und legte die Lippen auf den freigelegten Scheitel. Ein sanfter Kuss hinterließ einen warmen Abdruck auf dem schwarzen Haar, dass gleichzeitig vom warmen Atem gestreichelt wurde. "Ich kann dich wohlmöglich nie mehr los lassen.." seufzte er und schob den schwachen Körper immer weiter zum Bett. Erst als er die Kante erreicht war, ließ er sich selbst auf ihr nieder und zog Koishii mit sich, wo er das rot gewordene Köpfchen wieder fest an seine Brust drücken könnte. "Ich habe mich so sehr nach dir gesehnt, ich bin so froh dass ich endlich bei dir sein kann..."
New moon, would you open the gates and take me away from this night New moon, between the curtains Walk me away on your silvery bridge
In erster Linie spürte Koishii nur unglaubliche Erleichterung. Alle Spannung wich aus seinem Körper, floß regelrecht von ihm ab, und ließ ihn erschöpft aber glücklich zurück. Er ließ sich gänzlich ohne Gegenwehr zum Bett führen, allein durch die Tatsache bestätigt, dass es wirklich Sun war, der ihn besuchte. Natürlich hätte das auch eine Lüge sein können, aber so weit dachte Koishii gar nicht erst.. und wer sonst hätte auch davon gewusst? Nur Sun hatte seine Adresse bekommen und damit die Möglichkeit, ihn zu besuchen. Koishii spürte die Wärme seiner Berührungen, und wenn er die Augen schloß, dann konnte er sogar ganz und gar vergessen, dass es einen Unterschied gab zwischen ihrem Spiel und der Realität. Er konnte vergessen, dass sie sich in einer Klinik befanden, dass Sun nicht wirklich blind war, und vor allem vergessen, dass er nicht wirklich Koishii war... Wenn er die Augen schloß, konnte er Koishii sein, wie er es auch in der Anonymität online immer war. Für jeden anderen der Mitspieler war er Koishii.. Suns Bruder oder Findelkind, je nachdem wie gut sie sie eben kannten. Koishii wollte gern der Schwere des Alltags entfliehen, all seinen Ängsten und Zweifeln, und Sun machte es ihm leicht, als er sich mit ihm aufs Bett legte. Es gab Koishii Zeit, sein wild schlagendes Herz zu beruhigen, während er sich eng in Suns Arm schmiegte. Er traute sich noch immer nicht aufzuschauen, aber langsam kühlte sich die Hitze seiner Haut ab, und ein wenig Neugier machte sich in ihm breit. Über kurz oder lang würde er sich trauen, in das Gesicht zu schauen, das er unbekannter Weise liebte. "Ich wünschte... du würdest mich auch nie loslassen." konnte er dann nur ganz leise seinen Wunsch äußern. Für ihn waren nämlich Suns Worte Balsam auf seiner Seele gewesen. Sie waren beinahe zu schön um wahr zu sein, aber Koishii hielt sich verbissen daran fest, weil es sich um das einzig gute in seinem Leben handelte.. "Aber ich bin so nervös.." gestand er ihm dabei auch, und traute sich kaum, über die vom Stoff geworfenen Falten an Suns Arm mit der Hand zu streicheln. "Es ist so komisch weil wir uns noch nie gesehen haben und du nicht wirklich blind bist.." kamen dann die Worte nach und nach etwas flüssiger. Koishii war auf einmal wieder schrecklich nervös, musste dabei verlegen Lächeln. "..und, ich bin ja auch nicht wirklich Asiate..." äußerte er dabei auch seine Bedenken. Er war sich selber noch nicht sicher, ob Sun denn einer war. Dafür hätte er ihm ins Gesicht schauen müssen, bis zu welchem er sich noch nicht hervorgewagt hatte. "Ist das... schlimm?" stockte er, und versuchte damit, eine weitere Hürde zu nehmen, die entscheidend dafür war, wie es weitergehen würde. Die Finger suchten dabei nur weiterhin halt an einem Stück von Suns Ärmel, das er nicht bereit war, wieder loszulassen.
Auch Sun hatte sich viele Gedanken darüber gemacht, wie ihr erstes Treffen wohl verlaufen würde. Wie es laufen würde...wie Koishii sich in der Realität gab und inwieweit er sich von seinem Charakter unterschied. Glücklicherweise musste der Student feststellen, dass Koishii sich überhaupt nicht von seiner Rolle unterschied. Zumindest in den für ihn wesentlichen Punkten stimmte alles. Er war nicht so einfältig und objektiv auf einen asiatischen Jungen fixiert der nicht einmal ein Teenager gewesen war... er war fixiert auf das sanftmütige, scheue Wesen dass so verletzlich war und deswegen niemanden an sich heran ließ. Nur ihn...und dass wärmte sein eigenes verletztes Herz. Für jemanden..nein, für Koishii der einzige zu sein dem er vertraut und den er liebt- stärkte sein Selbstwertgefühl und hatte irgendwann dazu geführt dass er sich in ihn verliebte. Sun hatte sich in den Menschen hinter Koishii verliebt, obwohl er ihn nie gesehen hatte...und nun war er froh darüber dass er den großen Schritt doch gewagt hatte und sich der Realität stellte. Nun konnte er ganz real die Arme um den Jungen schließen den er so sehr liebte, und er konnte ihn an sein Herz drücken- die Augen schließen und die Lippen zu einem Lächeln verziehen. "Es sind zwei Sachen unwichtig.. die eine ist, dass du kein Asiate bist, und die andere, dass du nicht erst 11 Jahre alt bist.." schmunzelte er gutmütig und streichelte Koishii durch das schwarze Haar. Es war fein und entwischte seinen Fingerspitzen ständig. Koishii musste unbedingt mehr und regelmäßiger essen... Sun würde ihm künftig öfter gebratene Nudeln mitbringen, wobei er hoffte dass Koishii diese offline genauso gern mochte wie im Game. "Ich bin Asiate..aber ich habe mit anderen keine so guten Erfahrungen gemacht. Ich bin froh dass du schüchtern und lieb bist..und so zutraulich.." schwärmte er ihm leise vor und senkte mit geschlossenen Augen sein Kinn soweit, dass seine Lippen Koishiis Stirn streicheln konnten. "Asiaten sind meistens so distanziert und gestatten sich wenig Ausdruck an Gefühl.. ja und die meisten kompensieren diesen angelernten Stil mit quietsch-bunten Outfits, Kuscheltieren oder Animeserien um ihren Gefühlen die sie haben irgendwie Berechtigung zu verschaffen.." musste Sun seufzten, und seine Wange an Koishiis Stirn reiben. "Ich bin nicht so..ich will mich nicht verstellen müssen. Ich möchte mit dir zusammen sein...dich beschützen." Kam Sun wieder auf das wesentliche zurück, indem er seinen Koishii fester drückte. "Ich liebe dich..und dass schon ganz lang. Deine Nähe habe ich immer genossen und auch wenn wir nur geschrieben haben... hatte ich oft das Gefühl dich wirklich bei mir zu spüren. Das..musste eine Bedeutung haben. Deswegen bin ich hier.." gestand er dann auch ohne umschweifen...und ohne einem locker lassen der Arme die Koishii umschlossen hielten. Auch sein Bein hatte sich über den Knöchel des Jungens gelegt- und sein Herz schlug weiterhin aufgeregt. Immerhin kam nicht jeder mit so viel direkter Offenheit zurecht. Außerdem sahen sie sich ja auch das erste Mal. Sun hoffte nur es würde Koishii nicht überfordern...und um ihn zu bestärken streichelte er auch weiterhin liebevoll seinen Rücken bis zur Hüfte, um die seine Finger schließlich zum ruhen kamen...
New moon, would you open the gates and take me away from this night New moon, between the curtains Walk me away on your silvery bridge