Eine lange Spanne war vergangen, seit der Rothaarige zum letzten mal den Fuß auf den blanken Boden des Hangar gesetzt hatte. Die riesige Halle, von welcher man auf der einen Seite kaum bis zur anderen sehen konnte, war genauso wie er sie in Erinnerung hatte: voll von lauten Rufen, dem alles übertönenden Rattern der Maschinen, dem flackernden Licht und dem scharfen Geruch von Funken und Feuer, das bei den Schweißarbeiten entstand... nichts hatte sich geändert, und trotzdem hatte Noah das Gefühl, an einem vollkommen fremden Ort zu sein.
Damals hatte er sich hierher zurückgezogen, in irgend eine Ecke gekauert, wo er niemandem im Weg war und sich die beiden Stöpsel seiner Ohrhörer in die Ohren gesteckt, um Musik zu hören. Natürlich hatte er sich immer ein "Versteck" ausgewählt, von welchem aus er Oblivion beobachten konnte.. oder eher dessen Piloten. Wenn er zurück dachte, kam es ihm vor wie eine Ewigkeit, auch wenn tatsächlich nur ein paar Monate vergangen waren. Ein paar Monate, nicht lange, wenn man bedachte das Noah bereits 18 Jahre alt war. Was machte da eine so verhältnismäßig kurze Spanne schon aus? Eine scharf umrissene Falte bildete sich auf der ansonsten glatten Stirn, als dieser bei den rhetorischen, trüben Gedanken die Stirn runzelte. Nichts hatte sich verändert - und gleichzeitig alles.
Noah hatte wieder den Weg zum Hangar gefunden, sich zwischen der selben aufgetürmten Kistenpyramide niedergelassen, wo ihm die eine als halber Sichtschutz diente, und die andere eine einigermaßen bequeme Rückenlehne bot. Die Knie angezogen spielten die Finger seiner rechten Hand am Lautstärkeregler seines Mp3 Spielers, welchen er sonst wie gewohnt in seiner grauen Jackentasche aufbewahrte. Das Kreischen von Metall und das laute Dröhnen, als irgend ein schweres Mechteil herabgefallen war, störte seine Gedanken, so das nur das aufdrehen des Lautstärkereglers abhilfe schaffen konnte. Doch so wenig, wie seine Ohren sich auf das nur allzu bekannte Musikstück konzentrieren konnten, das er gerade hörte, konnte er sich auf den Blick der Augen konzentrieren, die halb starr über die nur zu vertraute Silhouette strichen, die niemand anders gehörten als einem pink-haarigen Piloten... Pink war er zwar nicht mehr, aber die Vertrautheiten in den Zügen und die Bewegungen des Körpers hätte Noah überall wieder erkannt, so eingehend hatte er jede einzelne studiert. Und genau wie damals war ihm auch heute daran gelegen, dass Aiden gar nichts von seinem Hiersein bemerkte.
Warum Noah tatsächlich gekommen war, wusste er selbst nicht genau. Er war, wie er selbst fand, nie der Typ gewesen der großartig der Vergangenheit nachtrauerte, und pessimistisch veranlagt wie er war, hatte er sich ohnehin keine großen Hoffnungen gemacht... Aber das Wunder, das geschehen war, und das ihn tatsächlich einmal im Leben glücklich gemacht hatte, indem es ihm die Liebe eines so besonderen Menschen wie Aiden einbrachte, war für ihn unfassbar gewesen. Jetzt war der Traum natürlich vorbei, und wie immer wenn in seinem Leben etwas Schönes geschah, war es hinterher umso härter, wieder zum Alltag zurückzufinden. Vielleicht war er ja einfach sentimental.. warum nicht die Zeit hier verbringen, und den alten Zeiten nachtrauern? Alles konnte wieder so sein wie es früher war; Aiden, erfolgreicher Pilot und von allen umschwärmt.. und der kleine Noah, der Sonderling, der ihn heimlich beobachtete, um irgendwie doch in seiner Nähe zu sein. Ein Biss in die Unterlippe verriet, das der spitze Stachel des gebrochenen Herzens noch immer in dem lebenswichtigen Organ wohnte und sicher noch lang nicht abstumpfte - so wie früher würde es vielleicht doch nicht werden, nachdem er einmal von der Liebe gekostet hatte. Aber wie Noah zu gut wusste, war nichts im Leben unmöglicher, als die Zeit zurück zu drehen. Hätte er eine zweite Chance, würde er alles anders machen, alles besser... Jetzt konnte er sich zumindest damit trösten, dass es Aiden gut ging, dass er glücklich war, oder zumindest glückliche Momente verbrachte. Und was ihn, Noah, anging, so konnte er zumindest froh sein, das ungeliebte Zuhause verlassen zu haben. Entgegen aller Erwartungen hatte es sich doch als gar keine so schlechte Idee herausgestellt, das Zimmer seines "Erz-Widersachers" zu beziehen.. Dort war zwar alles irgendwie neu, nicht wirklich vertraut, aber es war eine neutrale Ebene, die er sich mit Aaron zusammen nach und nach mehr einrichten würde - zwar nicht frei von Erinnerungen, aber doch zumindest frei von den meisten Dingen, die mit der Sorte Erinnerungen behaftet waren, die einen immer dann unverhofft ansprangen, wenn man am wenigsten damit rechnete, und auch am wenigsten damit konfrontiert wurde. Es gab in dem gemeinsamen alten Zimmer einfach zu viele Gegenstände, die an die gemeinsame Zeit erinnerten.
Noah, der trotz seiner Liebe zur Mathematik und dem großen Wunsch, das Fach später einmal zu studieren, nie ein Kämpfer gewesen war, und sich nicht einmal für ein solches Ziel richtig zu engagieren wusste, hatte Aiden gewissermaßen Kampflos ziehen lassen. Ob das richtig war, fragte er sich nach wie vor, insbesondere nun, da er "weg" war. An dem Punkt angelangt, fand er jedoch immer nur die selbe Antwort, nämlich das er zu einem Kompromis wohl nie wirklich bereit gewesen wäre.. Aiden zu teilen, selbst um dessen Wohl willen, hätte für Noah immer eine Qual bedeutet, die seine Liebe untergrub - wenn sie auch nicht schwand, fand er sich doch unfähig, sie in irgend einer Form weiterhin auszudrücken.
Nun jedoch hatte er etwas gefunden, und das war der Grund dafür, was ihn letztlich zum Hangar geführt hatte. Nicht Kampf oder Kompromiss, aber etwas ähnliches war es gewesen - ein normal großes DinA 4 Blatt, nun zu einem kleinen Zettel gefaltet, das er aus der Jackentasche, in welcher er normalerweise den Mp3 Playet aufbewahrte, herauszog.. Nun musste Noah nur noch warten, bis Aiden irgendwann den Blick zu dem Holzkistenstapel wandern ließ, an dem er früher schon immer gesessen hatte, um ihn zu entdecken, so dass Noah wie gewohnt, nach der Entdeckung wieder einen raschen Rückzug antreten konnte. Aber diees Mal nicht, ohne das weiße Stück Papier dort fallen zu lassen, wo er gesessen hatte. Aiden mochte es finden oder auch nicht, vielleicht fand es jemand anders an seiner Stelle, wenn das Papier nicht den richtigen Empfänger fand.. Für Noah, der damit eine Botschaft hinterließ, machte das gar keinen Unterschied. In seiner fein säuberlichen Schrift stand dort ohnehin nur ein einzelner Satz: Ich liebe dich immer noch Noah blieb nur zu hoffen, dass Aiden begriff, dass es sich hierbei nicht um den Versuch handelte, den Piloten zurückzugewinnen. Dem Kampf hatte er längst aufgegeben um des Willens ihrer aller Seelenfrieden, aber zumindest wollte er Aiden auf die Art wissen lassen, das er ihm nicht böse war, ihm nichts nachtrug.. welchen besonderen Platz er noch immer in seinem Leben einnahm, wenn er es auch peinlichst bedacht vermied, seiner ersten Liebe allzu direkt zu begegnen, oder überhaupt zu begegnen. Genau wie früher war es ihm genug, ihn manchmal zu beobachten, wenn auch nicht mehr so oft wie früher. Immerhin verbrachte er nun die meiste Zeit in der gemütlichen Enge seines neuen Zimmers, wo er sich den Freuden der Mathematik verschreiben konnte, die mir ihrer unumstößlichen Logik alle Sicherheit und Ordnung der Welt versprach.. und da war auch noch Aaron, der diese Liebe zu Zahlen und komplizierten Rechenvorgängen teilte. Aaron, der herrlich unkompliziert und verlässlich war, dessen Nähe er inzwischen sogar einigermaßen gut vertragen konnte - wohl auch, weil der introvertierte Aaron damit nicht allzu verschwenderisch umging.. und weil er, je länger Noah ihn beobachtete, um so ungefährlicher erschien. Natürlich war der Rothaarige noch weit davon entfernt, den jüngeren der beiden Zwillinge als harmlos einzuschätzen, aber sie waren auf einem guten Weg, sich einander anzunähern. Es war, fand Noah, eine recht eigentümliche Art miteinander zu leben. Keiner von ihnen beiden sprach gern über die wesentlichen Dinge, über das was sie quälte, die Probleme die sie hatten.. und obwohl sie schwiegen, war es für den einen nicht schwer, dem anderen anzusehen wie es war.. beinahe, als blickte man in einen Spiegel, aber doch ganz anders...
Ein letztes Kopfschütteln, dann war Noah schon so trittsicher wie ein richtiger Steinbock von dem Kistenhaufen gesprungen, als die Augen von Aiden so gefährlich nahe an seinem Versteck vorbei gestreift waren. Den herumeilenden Mechanikern ausweichend, war Noah dann auch bald im Getrümmel verschwunden.