Natasha glaubte nicht, dass es nach all den Jahren noch wichtig war, dass sie sich einmal etwas aus buntem Papier gemacht hatte. Das war längst vorbei, und mit zunehmendem Alter hatte sie auch andere Sorgen gehabt. Sie konnte nicht einmal genau sagen, warum eine vergleichsweise geringe Sorge sie so sehr verärgerte. Aber das zumindest war etwas, das sie nicht an Kyou auslassen musste. Immerhin hatte er ja nicht einmal widersprochen. Sie war deswegen auch ganz froh, dass er sich auf den Vorschlag einließ, das Gebäck zu teilen. Es hätte ihr wirklich mehr als wiederstrebt, einen lachenden Amerikaner zu essen; selbst wenn er ausschließlich aus Zucker, Mehl und Milch bestand und nicht etwa aus Fleisch und Blut. Sie beobachtete, wie Kyou den Amerikaner in der Mitte teilte, und ihm damit gewissermaßen das Gesicht raubte. Ihr Magen rumorte ein wenig, als sie begann darüber nachzudenken, dass die meisten Menschen so lebten: Fleisch beim Fleischer zu kaufen war in Ordnung, aber sobald sie ein lebendes Tier sahen oder es selbst schlachten sollten, in falschem Mitleid ertranken. Das Geheimnis lag also in der Entmenschlichung.. ein ähnliches Phänomen wie wohl auch in dem Forscher vorgegangen sein musste, wenn er an Menschen - oder Tieren - experimentierte. Dieses mal jedoch verdrängte sie die Gedanken mit aller Macht. Es war genau das Problem mit ihr, deswegen verlor sie die Nerven. So harmlos und unschuldig eine Situation oder Geste auch sein mochte, sie fand sofort schreckliche Assoziationen.
Vielleicht hatte sich ein Teil der Gedanken auf ihrem Gesicht wiedergespiegelt, aber sie gewann zumindest rasch die Fassung zurück. Auch wenn ihr noch immer etwas schlecht war, zog sie zumindest den Teller mit dem halben Amerikaner wieder an sich und drehte ihn in den Händen. Erst nach einer ganzen Weile schaffte sie es dann aber, ein Stück abzubeißen. Der Geschmack kam ihr zu süß vor, aber es ging, wie sie feststellte. Essen an sich war immer eine Herausforderung, insbesondere in Gesellschaft. "Hey... der ist ja frisch gebacken." merkte sie dann an, da sie den Unterschied schmeckte. Oft genug hatte sie in Bäckereien einen etwas trockeneren Teig bekommen, der nahelegte dass es entweder kein frisches Gebäck war, oder nur aufgebacken und damit vertrocknet war. "Eine gute Idee, übrigens. Sie sollten das wirklich vorschlagen. Ich denke aber, die meisten Leute mögen so etwas." sagte sie, halb grimmig, halb nachdenklich. "Es sieht ja auch ganz süß aus, so lange man es nicht essen will. Zum ansehen hab ich gar nichts dagegen." Das Problem bestand jedoch vor allem darin, dass ein Amerikaner zum Essen da war, und nicht zum ansehen. "Bei der Gelegenheit wäre es mir eine große Hilfe, wenn sie gleichzeitig noch dafür sorgen könnten, dass zu Weihnachten keine Weihnachtsmänner und zu Ostern keine Osterhasen mehr verkauft werden. Gegen Schokoladeneier habe ich im übrigen nichts." fügte sie an. "Aber Osterlämmer kann ich nicht leiden. Auch wenn die gebackenen besser sind, als echte." Sie glaubte zwar nicht, dass Kyou etwas daran ändern konnte, wie die Wirtschaft ihre Schokolade am besten an den Verbraucher brachte.. aber sollte sich irgendwann einmal etwas ändern, würde sie sich sicher darüber freuen. Sie konnte letztlich noch ein kleines Stück abbeißen, da dass Gespräch nun zwar ziemlich belanglos war, aber zumindest nicht mehr in eine Sackgasse zu steuern schien. Tatsächlich fühlte sie sich sogar schon ein wenig wohler.
"Hier wird sehr oft frisch gebacken, habe ich den Eindruck." fand sich Kyou auch weiter interessiert im Gespräch ein. "Seitdem die Rebllen sich hervorragend organisieren ist sogar für abwechslungsreiche Verpflegung gesorgt. Das Küchenpersonal gibt sich auch immer Mühe.." Der Doktor war dabei der Meinung dass man begriff, wie gut sich Moral auch durch Ernährung beeinflussen ließ. Bei ihrem Job, der nicht nur an die Muskelsubstanz geht- sondern auch an die nervliche, muss einfach auch für ein Lächeln gesorgt werden..und sei es inform eines lachennden Amerikaners- der hier sehr gut ankam. Auch Mikado hatte davon nie die Finger lassen können- weil er das Gebäck aber auch mit ganz anderen Augen sah, wie Natasha und er- der Doktor selbst. "Vielleicht denken auch viele nur nicht soweit.." schafften es seine Gedanken dabei über die Lippen. Sie sehen nur, dass Schokohasen, Gesichter auf Keksen und inform von bärtigen Weihnachtsmännern.. süß aussehen. In einem heilen oder unwissendem Umfeld, kommt wohl keiner auf die Idee, solche Formen könnten makaber sein oder traurig machen." Mutmaßte er weiterhin und nahm den nächsten Biss. Heruntergespült wurde er mit einem großen Schluck Kaffee. Er musste immerhin auch darüber nachdenken, wie sich Natashas Vorschlag verwirklichen ließ- die Schokoladenproduktion nachhaltig zu verändern.
"Es wird sich wohl sehr schwierig gestalten, eine so langanhaltende Tradition zu durchbrechen. Deswegen fiel mit zunächst nur Sprenung der Produktionsfabriken ein. Das halte ich jedoch selbst für sehr ..gravierend." wählte er die Worte ernst und verzog nachdenklich die Augenbrauen. "Man könnte jedoch mit viel Geld zu einem Bündnissvertrag annimieren, der besagt dass Schokolade an Weihnachten nur inform von Sternen, Weihnachtsbäumen oder Kugeln auf den Markt kommt. Zu Ostern dann eben nur als Eier, Körbchen oder Schleifchen.. bunte Geschenkverpackungen." Unterbrach er seine Aufzählung mit dem zucken seiner Schultern. "Oder propagieren, was wir denken. Beispielsweise in Werbespots und Plakaten.. wenn man die nur agressiv genug vertreibt essen die Leute dass auch nicht mehr und es gibt keinen zu erschließenden Markt mehr." Erschien es Kyou für gut, an die doppelmoral der Menschen zu appelieren. Immerhin engagierten sie sich auch für den Tierschutz, obwohl sie im Supermarkt das Billigfleisch aus Massentierhaltung bezogen. Zeigte man ihnen also, wie 'böse' es war Weihnachtsmänner zu verspeisen- würden sie es schon aus prinzip nicht mehr tun..wenn es doch sogar ausweichmöglichkeiten gab. Selbst der Wiederstand der oblikatorischen Querdenker sah er nicht für einschneidend genug, wirklich gefährlich zu werden. " Herje, ich kann mich in sowas immer verlieren.." bemerkte er mit einem leisen lachen, dass er sich schon wieder Pläne durchdachte, die sich - zumindest in naher Zeit- nicht umsetzen ließen. Es waren Hirngespinste.. aber amüsanter Art, die das Gespräch vereinfachten und auch dem Doc ein wohligeres Gefühl verschafften. "Aber wenn wir dass erreicht haben, können wir uns auch daran machen, die armen Marzipantierchen zu retten.." wurde er ein wenig stiller, aber dennoch zeigte sich sein Interesse in den Ausführungen. Vielleicht hatte ihn sein eigenes Engagement auch nur so verlegen gemacht- wie die kurz aufglühende Farbe auf seinen Wangen verriet.
I trampling on your dreams Before they stand in the way of mine
Jetzt, wo Kyou sie darauf aufmerksam machte, fiel ihr auf dass hier wohl tatsächlich oft frisch gekocht wurde, und die Speisen eine gute Qualität besaßen. Natasha kam nicht umhin sich zu fragen, wie sie wohl an solche Nahrungsmittel kamen. Diebstahl war eine Sache, und wenn sie darüber nachdachte, wie viele Millionen Tonnen Nahrungsmittel jedes Jahr vernichtet wurden, nur damit die Preise stabil blieben, schien ihr nichts mehr falsch daran, die Konzerne zu erleichtern. Es kam ihnen doch nur gelegen, so hatten sie jemanden an den sie die Schuld abwälzen konnten; der Verbraucher glaubte sicher daran, dass höhere Kosten eben durch Faktoren wie Rebellenanschläge zustande kamen. Sie teilte Kyou diese Gedanken schließlich mit. "Wie denken sie darüber?" fragte sie abschließend. "Es wäre vielleicht gar keine so dumme Idee, beim nächsten Mal eine dieser Vernichtungsanlagen hochzunehmen. Auf die Art kämen wir schnell und Effektiv an Lebensmittel, ohne jemandem zu schaden. Allerdings würden wir wohl nur eine geringe Auswahl an Lebensmitteln erbeuten können.. davon aber wohl in rauhen Mengen." überlegte sie.
"Wahrscheinlich ist das auch eine viel bessere Idee, als zum Schoko-Terrorist zu mutieren." musste sie dann aber mit einem milden heben der Augenbrauen einräumen, das zumindest einen kleinen Anflug Belustigung erkennen ließ. "Selbst wenn wir Fabriken sprengen würden, sie würden doch nur wieder aufgebaut. Und alle möglichen Kampagnen wären wohl auch sinnlos, sie wissen doch selbst wie wenig die Menschen bereit sind, umzudenken. So lange es sie nicht betrifft, werden sie nicht aktiv.. und kleine Schokofiguren tun wohl wirklich niemandem weh." seufzte sie. "Ganz im Vergleich zu wirklichen Tieren. Und dafür setzen sich auch schon seit Jahren die verschiedensten Organisationen ein. Ich glaube nicht, dass wir einen schnellen Wandel erreichen können.. zumal das oberste Ziel der Rebellen ja der Frieden ist, so weit ich es verstanden habe." überlegte sie weiter. "Außerdem glaube ich, dass sie recht haben. Niedliche Verpackungen tun keinem weh... ein normal denkender Mensch würde nie.. auf solche Gedanken kommen. Das bedeutet, dass mit mir etwas nicht stimmt, und nur aufgrund eines Einzelschicksals kann man nicht die komplette Industrie wandeln. Wahrscheinlich wären mehr Kinder über eine wechselnde Verpackung und Form traurig, als es am Ende Menschen gäbe, die sich darüber freuen." schloß sie ein Fazit, von dem sie glaubte dass es so neutral wie möglich versucht hatte zu betrachten. "Lassen sie uns also unsere Ambitionen was Schokoladen- und Marzipantierchen angeht, noch ein wenig nach hinten verschieben. Tatsächlich glaube ich sogar, wir können noch viel weiter zurück gehen... wir könnten die ganze Süßigkeiten-Industrie lahm legen, weil so viel Zuckerzeug doch ohnehin ungesund ist." schlug sie ihm vor. "Als Arzt kennen sie besser als jeder andere die schädlichen Folgen von Industriezucker. Und sie sind offenbar ein richtiger Aktivist." Damit gab sie ihm zu verstehen, dass es sie nicht weiter gestört hatte, dass er sich in seinen Ausführungen verlor. Immerhin war das Thema leicht genug, dass es sie nicht angriff. Sie hatte sich oft darüber gewundert, wie viel hier gescherzt und gelacht wurde, obwohl es ihrer Meinung nach dazu gar keinen Grund gab. Sie hatte deswegen sogar die Ernsthaftigkeit dieser Organisation in Frage gestellt.. nur langsam begriff sie, dass das tatsächlich wichtig war, um die Moral aufrecht zu erhalten. Eigentlich war sie ganz froh, hier zu sein.
Kyous Mimik wurde wieder ernsthafter als er die Vor- und Nachteile abwog- eine Nahrungsvernichtungsanlage zu stürmen. "Ob die Ausbeute nun vielfältig ist oder nicht spielt eigentlich keine Rolle.. vielleicht sind ja auch länger haltbare Lebensmittel dabei, wie Reis oder Mehl.. damit könnte hier schon viel erreicht werden. Zudem setzt man damit noch ein Statement gegen die Verschwendung.." benannte er das positive an der Sache. "Ich frag mich nur wieso vorher niemand auf die idee gekommen ist. Bei Gelgenheit werde ich das einmal ansprechen." befand Kyou für die beste Lösung. "Verschwendet wird bei heutiger Massenproduktion so viel..da haben sie recht. Die Weltbevölkerung wäre versorgt, aber man streubt sich dagegen zu teilen und meint dies mit Gesetzen über den Transport von verderblichen Lebensmitteln zu handhaben." schüttelte er den Kopf. "Dabei mangelt es nichteinmal anm Rohstoffen. Dann sollten sie doch gleich Afrika mit Mehl und Salz versorgen, damit die Menschen ihr eigenes Brot backen können. Sollten sie doch Filteranlagen entwickeln die das salzige Meer zu Brauchwasser umwandeln und für ein unabhäniges Sanitärsystem sorgen. Ich verstehe bei den heutigen Möglichkeiten nicht, wieso man, wenn man schon in einer Wettbewerbsgesellschaft lebt, diese nicht fördert." brachte es Kyou wieder zum Kopfschütteln. Wie oft hatte er sich schon bei solchen Disskusionen den Kopf zerbrochen..und musste bemerken dass es ihn immer wieder aufs neue reizte. Seiner Meinung nach brachte eine Wettbewerbesgesellschaft nichts wenn man nicht daran festhielt sie stabil zu halten.
"Ich finde die Idee immer besser." musste er mit einem weiteren nicken zugestehen. "Besser als.. gutgläubigen Kindern die Freude zu nehmen. Behalten wir uns eben einfach vor, auf verzierte Süßigkeitn zuzugreifen.." stimmte sich der Doktor selbst wieder milde und verhallte sogar in einem kleinen Lächeln. " Zucker in Maßen ist ja nicht verkehrt. Aber es schmeckt nunmal gut und lässt sich nicht verbieten..andernfalls könnte man die agressive Werbung an Kassen und Fernsehn reduzieren, wie es bei Zigaretten der Fall gewesen ist. Mehr als mit Aufklärung kann man den Menschen leider nicht dienen." zuckte er mit den Schultern. " Ich esse nur wenig süßes..mir schmeckt es garnicht so gut. Lieber etwas Obst oder Säfte gönne ich mir neben unmengen Kaffee.." musste er sich räuspern. Das sprach immerhin nicht gerade für eine gesunde Lebensweise. "Aber wenn man den Leuten ihren Zucker wegnimmt, geraten die in einen Entzug. Ich weiß nicht ob wir das sozialsystem damit fördern.." musste er den zusätzlichen einwand hegen, die gesammte Süßigkeitenindustrie lahm zulegen- auch wenn er damit persönlich kein Problem hatte- so wie er sich Natasha mitteilte. "Ein Akitivist.. vielleicht haben sie damit ja doch recht. Sie liefern für mich aber auch immer wieder ansporn, der meine Gedanken automatisch in Gang setzt.." musste der Doktor schmunzeln. Ein bisschen komisch hatte er den Gedanken befunden- gerade wenn er an seine Vergangenheit zurück dachte. Das bedeutete jedoch nicht dass in seinem Grundkern nicht doch ein Aktivist schlummerte. "Wenn das so ist bin ich ja genau am richtigen Ort." konnte er sich nur selbst beglückwünschen. Das Gebäck hatte er dabei schon längst samt dem Kaffee verdrückt.
I trampling on your dreams Before they stand in the way of mine